Gnosis: Welt der Materie - Welt des Lichts

Gnosis: Welt der Materie - Welt des Lichts
Gnosis: Welt der Materie - Welt des Lichts
 
Lange Zeit war die Gnosis, der zufolge Erlösung durch »Erkennen« (Gnosis) geschieht, nur als eine innerchristliche Häresie bekannt. Erst im 20. Jahrhundert bemerkte man, dass sie in weiteren Ausprägungen vorliegt und als ein spezifisches Daseinsverständnis der Spätantike zu begreifen ist, das sich mit unterschiedlichen religiösen Traditionen verbunden und deren Mythenmaterial zum Ausdruck der eigenen Auffassungen benutzt hat. Diese These wird auch durch das nichtchristliche »Corpus hermeticum«, eine Schriftensammlung, deren zentrale Figur der griechische Gott Hermes ist, und die Funde von Nag Hammadi bestätigt. Seitdem hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass es sich bei der Gnosis um eine eigenständige spätantike Religion handelt, die sich zwar, parasitär, fremder religiöser Traditionen bedient, auch unterschiedliche Organisationsformen annimmt, aber dennoch eine Einheit darstellt.
 
Grundlegend ist eine negative Wertung der konkreten Wirklichkeit, ein Weltpessimismus; der Mensch sieht sich als Fremder in diese böse Welt hineingeworfen, so Theodot. Dass er an ihr leidet, zeigt aber, dass er im Grunde auf eine andere, bessere Wirklichkeit angelegt ist und diese in sich trägt. So ist er in sich gespalten und schwankt zwischen Gut und Böse. Diese ethische Alternative aber wird in der Gnosis in der Wirklichkeit der Welt und des Menschen begründet und so zu einem auch seinshaften Dualismus. Dadurch wird der Mensch zwar entlastet, weil er das Böse in sich auf kosmische Prinzipien zurückführen kann; zugleich aber gewinnt die Verhaftung auf das Böse auch einen schicksalhaften Charakter. Das Gute wird mit dem Bereich des Geistigen und des Lichtes assoziiert, das Böse mit der Materie, dem Leib, der Finsternis.
 
In die Gnosis eingeflossen sind dualistische Anschauungen des Orients, vor allem der persischen Zarathustrareligion, aber sie besitzt auch starke Wurzeln in der griechischen Tradition. Zwar wird die Mentalität des klassischen Griechenland und des seit Alexander dem Großen sich bildenden Hellenismus oft undifferenziert als sinnenfroh und optimistisch bezeichnet, aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Schon früh findet sich in Griechenland eine starke Gegenüberstellung von Geist und Materie, Sichtbarem und Unsichtbarem, und schon für Platon ist die eigentliche Wirklichkeit nicht in dieser, sondern in der Welt der Ideen zu suchen. So ist die Gnosis vor allem zu betrachten als eine Ausprägung der griechisch-hellenistischen Kultur, in die einige orientalische Motive aufgenommen wurden.
 
Zu Beginn der römischen Kaiserzeit war zwar noch - bei der einfachen Bevölkerung - der Glaube an polytheistische Gottheiten verbreitet; in weiten Kreisen aber wurde Gott als kosmisches Prinzip gedacht. Prinzipien aber können nicht handeln, den Menschen also auch nicht helfen. Erlösung konnte nur durch eigenes Tun erreicht werden; so vertritt auch die Gnosis den Gedanken der Selbsterlösung: Sie verwirklicht sich durch die Erkenntnis der wahren Zusammenhänge. Wer sie durchschaut, ist damit schon erlöst, lebt im Licht und ist frei von den Zwängen des Bösen. Wer aber der »plané«, dem Irrtum, verhaftet ist, bleibt in der Finsternis und an das Böse gekettet. Wer die Gnosis besitzt, weiß um die Konstitution dieser Weltwirklichkeit. Er weiß von den beiden Prinzipien, dem guten und bösen, Geist und Materie, Licht und Finsternis, aus denen alles herkommt und in einem je verschiedenen Verhältnis gemischt ist; durch Emanation, Hervorfließen, aus dem Anfangsgründen ist alles entstanden.
 
Die Entstehung der Weltwirklichkeit ist Resultat einer Reihe von Emanationen, an deren Anfang entweder - so die gemäßigteren Richtungen - der grundlegend eine und gute Gott stand; eine der aus ihm hervorgegangenen minderen Gestalten wandte sich aber - durch Verblendung und Sünde - von seinem Ursprung ab und verkörpert jetzt das böse Gegenprinzip. Es gibt auch radikalere Formen der Gnosis, in denen das Gegenprinzip nicht eine Emanation ist, sondern gleichursprünglich wie der gute Gott; in diesen Varianten stehen sich von Anfang an zwei Gottheiten, ein Gott des Lichts und ein Gott der Finsternis, gegenüber. Das böse Prinzip oder der Gegengott wird gemäß den gnostischen Mythen zum Weltschöpfer, zum Demiurgen. Er »erschafft« alles, indem er Geistiges und Lichtvolles mit Materiellem und Dunklem vermischt, die menschlichen Seelen werden von ihm in die Materie gebannt; nach manchen Mythen entsteht zunächst ein Archanthropos, ein »Urmensch«, von dem alle anderen abstammen. Weil der gute Gott einer Welt, in der Gutes, Geistiges, Lichtvolles mit Bösem, Materiellem und Finsterem verbunden waren, gegenüberstand und er selbst mit ihr, um sich nicht zu beflecken, keinen Kontakt haben durfte, dachte man sich zwischen Gott und Welt einen Bereich des Pleroma, der »Fülle«, geistiger Zwischenwesen, die sich in komplizierten Reihungen - hier gibt es eine Menge fantastischer Mythen - von Gott herleiten. Eine ähnliche Welt, ein negatives Spiegelbild, war um oder unter dem Weltschöpfer versammelt.
 
Einer der Äonen übernimmt dann die Aufgabe, den in die Menschenleiber verstreuten und dem Irrtum verfallenen Seelen das Wissen um die wahren Zusammenhänge zu bringen. Diese Erlösergestalt ist in den christlichen Varianten Jesus Christus. Nach dem »Evangelium der Wahrheit« aus dem 2. bis 3. Jahrhundert ist der Logos in Jesus aus dem Pleroma herabgekommen, um die zu erleuchten, »die durch das Vergessen in Finsternis sind.« In nichtchristlichen Richtungen aber werden andere Gestalten herangezogen, so zum Beispiel der schon der griechischen Mythologie bekannte Götterbote Hermes, jetzt als »Hermes trismegistos«, als »dreimal größter Hermes«, zentrale Figur. In einigen Richtungen werden kultische Riten praktiziert, in deren Symbolik die Anfänger allmählich eingeführt werden und deren Inhalte bisweilen der Arkandisziplin unterliegen können.
 
Der Erlöser vermittelt nur das Wissen, das sich jeder selbst aneignen muss, um frei zu werden; aber nicht alle sind dazu in der Lage. Meist werden die Menschen in drei Gruppen geteilt: die Hyliker sind der Materie (»hýle«) verfallen und zur Gnosis unfähig; die Psychiker stehen eine Stufe höher, sind nach manchen Richtungen vom Heil ausgeschlossen, nach anderen können sie durch einen schlichten Glauben und durch Tugend zu einer minderen Form von Erlösung finden; die Pneumatiker dagegen tragen einen Funken göttlichen Geistes (»pneũma«) in sich und sind so fähig, wieder in ihre Heimat, das Pleroma, zurückzukehren. Die Grundlage hierfür wird in der Gnosis gelegt, aber erst im Tod wird die Entmischung von materieller Befleckung durchgeführt. Danach durchwandern die Seelen auf dem Weg zum Gott des Lichtes eine Reihe von Gestirnsphären mit ihren Archonten; für die Passage benötigen sie gelegentlich geheime Formeln. So geht es in der Gnosis um die Heimkehr zum eigenen, guten Ursprung; die menschliche Existenz in Geschichte und Welt war ein Sündenfall, aus dem man sich wieder befreien muss.
 
Prof. Dr. Karl-Heinz Ohlig
 
 
Jonas, Hans: Gnosis und spätantiker Geist. 2 Bände in 3 Teilen. Göttingen 1-41966—93.

Universal-Lexikon. 2012.

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